E. Kurmann: Fotogeschichten und Geschichtsbilder

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Titel
Fotogeschichten und Geschichtsbilder. Aneignung und Umdeutung historischer Fotografien in Tansania


Autor(en)
Kurmann, Eliane
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Anzahl Seiten
393 S.
Preis
open access / € 45,00
von
Markus Wurzer, Graz

Seit geraumer Zeit stellen sich Gesellschaften rund um den Globus die Frage, wie mit dem schwierigen Erbe des Kolonialismus umzugehen sei. Neben der Rückgabe von geraubten Objekten, Entschädigungszahlungen, der Umbenennung von Strassen und dem Rückbau von Denkmalen steht dabei auch der Umgang mit kolonialen Bildbeständen zur Diskussion.1 Eliane Kurmanns Monografie, die auf ihrer 2020 an der Universität Zürich verteidigten und mit dem SIAF-Award ausgezeichneten Dissertation beruht,2 will sich als «neuer, empirisch basierter Beitrag zur anhaltenden Debatte über historische Fotografien, die das koloniale Afrikabild mitprägten» (S. 26), verstehen.

Kurmann widmet sich in ihrer Arbeit Tansania, das von 1885 bis 1918 deutsche und danach britische Kolonie gewesen war. 1961 erlangte es seine politische Unabhängigkeit. Als Fallbeispiel eigne es sich, weil dort bereits seit Jahrzehnten ein angemessener Umgang mit sensiblen Bildern aus der Kolonialzeit praktiziert werde (S. 26). Tansanier*innen würden durch selbstbestimmte Aneignungspraktiken eine «Umwertung der Bestände» (ebd.) vornehmen, wodurch sie koloniale Machtstrukturen destabilisieren und neue Bedeutungen hervorbringen. Ergo interessiert sich die Autorin sowohl für gegenwärtige Verwendungsweisen historischer Fotografien als auch für ihre kolonialen Entstehungs- und Gebrauchszusammenhänge (S. 24). Damit schliesst sie an jüngere Forschungen an, die sich für die Aneignung kolonialer Bildbestände in Kamerun und Südafrika interessierten (ebd.).

Für ihre Studie konsultierte Kurmann neben Archiven in Deutschland und der Schweiz auch solche in Tansania. Im Rahmen mehrmonatiger Aufenthalte erhob sie die visuellen Bestände des Tanzania National Museums, der East Africana Collection sowie der Tanzania National Archives (S. 31). Für ihre Analyse wählte Kurmann schliesslich drei Bilder aus. Diese eignen sich zum einen als Beispiele, weil die Autorin in der Lage ist, die Jahrzehnte umspannenden Verwendungsgeschichten nachzuvollziehen. Zum anderen konnte Kurmann anhand dieser Bilder die tiefgreifenden Bedeutungsverschiebungen und die Vielstimmigkeit der tansanischen Geschichtskulturen und ihrer miteinander in Konkurrenz stehenden Geschichtsbilder herausarbeiten (S. 345).

Die Analyse der drei Bildbeispiele bilden den empirischen Hauptteil des Buches. Auf je rund 100 Seiten zeichnet die Autorin ihre Entstehungs- und Verwendungsgeschichten nach (S. 29). Dabei geht Kurmann von der bildtheoretischen Position aus, dass die Bedeutungen von Bildern vor allem in der Rezeption entstehen, weshalb diese auch aus Verwendungskontexten gelöst und etwa durch Bildbeitexte in neuen Zusammenhängen anderweitig funktionalisiert werden können (S. 30). Dieser objektbiografische Ansatz richtet sein Augenmerk nicht auf Ästhetik, Formales oder Fragen von Repräsentation, sondern konsequenterweise auf die Gebrauchszusammenhänge der Bilder, also auf ihre Materialitäten und medialen Erscheinungsformen (S. 32). Diese Entscheidung schlägt sich in Kurmanns Forschungsdesign nieder: Sie nutzt einen historisch-ethnografischen Zugang, der historische Quellenkritik, Oral History und die auf die Materialität der Bildobjekte abzielende Dinganalyse miteinander kombiniert (ebd.).

Beim ersten Bildbeispiel handelt es sich um das Portrait von Songea Mbano. Die Autorin zeigt, wie aus einer rassistisch-anthropologischen Aufnahme, die einen «typischen» Vertreter des «Mogni-Stamms» zeigen sollte, durch die tansanische Musealisierung nach 1961 ein «Heldenporträt» des anti-kolonialen Widerstands wurde (S. 39). Das zweite Beispiel, eine fotografische Aufnahme von Gefangenen im Maji-Maji-Krieg (1905–1907) kurz vor ihrer Hinrichtung, nutzt Kurmann hingegen dazu, um zu demonstrieren, dass im heutigen Tansania unterschiedliche Gruppen dasselbe Bild unterschiedlich interpretieren und so um die Deutungshoheit konkurrieren (S. 40). Im dritten Beispiel gelingt es der Autorin, nachzuvollziehen, wie öffentliche Bilder durch private Abzüge angeeignet werden: Der Fotograf Amini Kiwanga fand in einer ethnografischen Studie aus dem Jahr 1935 eine Aufnahme seines Vaters. Er fotografierte sie ab und verteilte sie unter seinen Verwandten, wodurch er die Fotografie aus ihrem ursprünglichen Kontext löste und zu einem familialen Erinnerungsstück machte (S. 42).

Eliane Kurmanns Buch hält, was es verspricht: Die drei «Fotogeschichten» rekonstruiert sie in methodologisch souveräner Art und Weise, wobei vor allem ihr Methodenset, ihre Selbstreflexivität (S. 34) und ihre quellengesättigte und detailreiche Argumentation zu beeindrucken wissen. Sie bringt damit nicht nur das tansanische Fallbeispiel in die deutschsprachige Debatte rund um den Umgang mit visuellen Hinterlassenschaften des Kolonialismus ein, sondern liefert selbst ein Best-Practice-Beispiel ab, wie mit solchen sensiblen Fotografien analytisch zu verfahren ist: Der Fokus auf Entstehungs- und Gebrauchsgeschichten offenbart nicht nur ihre kolonialen Rhetoriken, sondern ebnet auch den Weg zu ihrer postkolonialen Kritik. Insofern werden dieses Buch all jene mit Gewinn lesen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie ein angemessener Umgang mit kolonialen Bildbeständen gelingen kann, sowie die, die sich für postkoloniale Geschichtskulturen in Afrika und für globale Fotogeschichte interessieren. Gerade für Letztere ist die Lektüre der detaillierten Ausführungen zu den visuellen Archivbeständen in Tansania (S. 43–52) lohnend.

Anmerkungen:
1 Für Debatten in Europa siehe beispielsweise: Paolo Bertella Farnetti (Hg.), L’impero nel cassetto. L’Italia coloniale tra album privati e archivi pubblici, Milano 2013; Diana M. Natermann, Hamburg und die Visualisierung Afrikas. Ein verstörender Nachlass im Kollektivgedächtnis der Stadt?, in: Kim Sebastian Todzi, Jürgen Zimmerer (Hg.), Hamburg. Deutschlands Tor zur kolonialen Welt, Göttingen 2021, S. 229–246.
2 https://www.uzh.ch/cmsssl/hist/de/ueberuns/news/SIAF-Award-f%C3%BCr-Eliane-Kurmann-und-ihre-Dissertation-%C2%ABFotob%C3%BCcher-und-Geschichtsbilder%C2%BB.html (23. 8. 2023).

Zitierweise:
Wurzer, Markus: Rezension zu: Kurmann, Eliane: Fotogeschichten und Geschichtsbilder. Aneignung und Umdeutung historischer Fotografien in Tansania, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 145-147. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00142>.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 145-147. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00142>.

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